Alexander Neuer

neuerAlexander Neuer wurde am 30. März 1883 in Lemberg, Galizien, geboren. In Wien studierte er zunächst Philosophie. Nach seiner Promotion im Jahr 1909 absolvierte er außerdem ein Medizinstudium, das er 1921 abschloss.

Neuer war ein sehr frühes Mitglied der Individualpsychologischen Vereinigung und übte bedeutenden Einfluss auf Alfred Adler aus. Als Philosoph half er Adler entscheidend bei der Fassung seiner philosophischen Grundlagen. Einige Artikel und Aufsätze zeugen von Neuers wissenschaftstheoretischer Untermauerung der Individualpsychologie.

Neuer galt als scharfer Kritiker biologistischer Psychologien sowie auch der Psychoanalyse. In der Individualpsychologie sah er die Möglichkeit, den inneren Lebensplan und die Lebensziele des Individuums zu begreifen. Der Sinn einer Erscheinung kann nur dann verstanden werden, wenn wir den Zweck des Ganzen kennen. Jedes Symptom, jede Äußerung muss im Kontext des Leitideals, des Lebensplans erfasst und verstanden werden. In der Adlerschen Psychologie geschieht nichts ohne Motiv, sei dieses auch unbewusst.1

Der innere Lebensplan ist stets unter Einbeziehung der realen Lebensumstände zu begreifen. Wir alle sind in einen Kampf mit der Umwelt hineingeboren. Wir haben aber die Möglichkeit, die Widerstände, stammen sie aus dem eigenen Körper oder der Umgebung, zu überwinden. Der Weg aus dem Wirrsal der Widerstände führt über die Ermutigung. So versteht Neuer Symptome im Sinne der Individualpsychologie als Fluchtsymptome, als Ausdruck eines mutlos gewordenen Subjekts. Die individualpsychologische Ermutigungstherapie bietet die Möglichkeit, das Individuum aus der Umklammerung seiner neurotischen Ausreden zu befreien und es zu Selbstverantwortung und Pflichtbewusstsein gegenüber der Gemeinschaft zu erziehen.2

Betätigungen im Kontext der Individualpsychologie

Der Psychiater Alexander Neuer war in verschiedenen Erziehungsberatungsstellen als ärztlicher Leiter tätig. Ferner arbeitete er in einem Ambulatorium unter der Leitung von Lydia Sicher mit, das sich der Behandlung mittelloser, seelisch Erkrankter und später schwer erziehbarer Kinder annahm. Von 1927 bis 1929 hatte er den Vorsitz des Wiener Vereins für Individualpsychologie inne.

Aufgrund von Existenzproblemen ging Neuer gegen Ende der 1920er-Jahre nach Berlin, wo er ebenfalls im Umfeld der Individualpsychologie aktiv war und vermutlich im Auftrag Adlers zwischen den dort streitenden Gruppen vermitteln sollte.3 1930 kehrte Neuer nach Wien zurück. Er hielt Vorträge im „Klub der Freunde der Individualpsychologie“, wo über psychologische und pädagogische Themen diskutiert und Eltern und LehrerInnen Hilfe bei Erziehungsproblemen angeboten wurde.

Auch in Wien kam es Anfang der 1930er-Jahre zu Spannungen, Ideologiedebatten und Austritten, die meist politisch motiviert waren.

„Die Individualpsychologen Dr. Alexander Neuer und Dr. Erwin Wexberg erstellten rigorose Richtlinien zur Bewertung von Abweichungen und Häresien. Sie lehnten jede Politisierung des Vereins ab: Er könne keiner Partei dienen, wenn er auch zum Verständnis des zur Politisierung führenden Vorganges kompetent sei.“4

1939 flüchtete Alexander Neuer nach Frankreich. In Paris traf er auf Sophie Lazarsfeld, Manès Sperber, Emmerich Weißmann und Edmund Schlesinger, die ebenfalls aufgrund ihrer jüdischen Herkunft geflüchtet waren. Nach Kriegsbeginn kam Neuer in ein Internierungslager in der Nähe von Paris, wo auch Carl Furtmüller festgehalten wurde. Alexander Neuer wurde Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik und starb etwa 1941. In einem Nachruf aus dem Jahr 1941 schreibt Furtmüller:

„I saw him for the last time in November 1939 in a French concentration camp. The pain he suffered was immeasurably increased by the hardship of the concentration camp life. Nevertheless, amidst the many people complaining bitterly their fate, he was always the smiling, comforting comrade.“5

Persönliches Statement

Mit Alexander Neuer bin ich einem philosophischen Kopf der GründerInnengeneration nähergekommen, der eng an der Seite Alfred Adlers stand und großen Einfluss auf diesen ausübte. Beim Durchstöbern einiger seiner Artikel, die er in der „Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie“ (IZIP) publiziert hat, ist mein erstes Ausbildungssemester wieder lebendig geworden, meine erste intensivere Begegnung mit den Wurzeln der Individualpsychologie und wichtigen Grundbegriffen individualpsychologischen Denkens.

Es ist ein spannender Prozess, den Spuren unserer WegbereiterInnen zu folgen und die Zeitzeugnissammlungen gemeinsam aufzuarbeiten. Vergangenheit kann nicht einfach gespeichert werden, sie muss angeeignet und vermittelt werden. Deshalb finde ich es besonders wertvoll, dass unterschiedliche Vereinsgenerationen ihr Wissen, ihre Erfahrungen und Erinnerungen im Projekt „Brüche und Kontinuitäten der Wiener Individualpsychologie – Die Zeit von 1930 bis 1960“ einbringen.

Verfasst von Ilonka Schwarzenfeld

Quellenangaben:

1 Vgl. Neuer, A. (1925): Warum die Individualpsychologie mißverstanden wird. In: IZIP 3, S. 261–262.
2 Vgl. Neuer, A. (1929): Über nicht-individualpsychologische Erziehungsmethoden. Gespräch einer individualpsychologischen Erziehungsberaterin mit einem Arzt. In: IZIP 7, S. 217–218; vgl. Neuer, A. (1929): Die moderne Ehe als neurotisches Symptom. In: IZIP 7, S. 41.
3 Vgl. Schiferer, H. R. (1995): Alfred Adler: Eine Bildbiographie. München: Reinhardt, S. 180.
4 Schiferer, H. R. (1995), S. 179–180.
5 Zit. nach Kenner, C. (2007): Der zerrissene Himmel. Emigration und Exil der Wiener Individualpsychologie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 159.

Literaturverzeichnis:

  • Kenner, C. (2007): Der zerrissene Himmel. Emigration und Exil der Wiener Individualpsychologie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 156–160.
  • Neuer, A. (1925): Warum die Individualpsychologie mißverstanden wird. In: IZIP 3, S. 260–262.
  • Neuer, A. (1929): Die moderne Ehe als neurotisches Symptom. In: IZIP 7, S. 36–44.
  • Neuer, A. (1929): Über nicht-individualpsychologische Erziehungsmethoden. Gespräch einer individualpsychologischen Erziehungsberaterin mit einem Arzt. In: IZIP 7, S. 215–218.
  • Schiferer, H.R. (1995): Alfred Adler: Eine Bildbiographie. München: Reinhardt.